Neuinfektionen, Reiserückkehrer und andere Zahlen

Es ist Mitte August, die Anzahl Neuinfizierter nimmt - hört man auf manchen Politiker - drastisch zu. Schuld sind die Reiserückkehrer und die jungen Menschen unter 30. Urlaube und Parties sind Spreading-Events.

Nein, es ist keine zweite Welle. In den Medien wurde jetzt schon viel überlegt, was eine zweite Welle ist und ob dies nun eine zweite Welle ist. Zahlreiche Experten (zB Michael Ryan, Direktor der WHO-Nothilfe) sind sich einig, dass es eben keine zweite Welle ist, auch weil der Begriff an sich schon Unsinn ist. 

Gäbe es eine zweite Welle, was würden wir erwarten? Mehr Neuinfektionen! Ja, genau, aber eben nicht im Hinblick auf die absolute Anzahl, sondern relativ im Hinblick auf den Bevölkerungsanteil. Das können wir jedoch nur messen, wenn wir jeden Menschen - oder aber eine ausreichend große zufällige Gruppe testen könnten. Gäbe es Statistiker im Beratungsteam der Bundesregierung, dann hätten die vielleicht gesagt: Nehmt je Woche eine Gruppe von 50000 Menschen (die Zahl ist vermutlich absolut falsch) und testet. Hierüber könnt ihr dann im Laufe der Zeit gesehen werden, wie sich die Infektionsrate verhält. 

Standardisierung ist so ein Zauberwort. Lernt man eigentlich im Grundstudium, spätestens beim Diplom oder aber Master. Experimentelles Design so ein anderes. Damit hätte man sich ab März beschäftigen müssen. Und zwar am besten mit Experten, die eben aus Bereichen wie der Ökologie, Klimaforschung oder Ökonomie kommen. Solche Bereiche, die multikausale und teils chaotische Aspekte aufweisen und dennoch modelliert und untersucht werden wollen und sollen.

Zurück zu den aktuellen Zahlen: 

Die Ergebnisse sind nicht standardisiert. Angenommen es gibt eine feste Rate von 10 Infizierten je 100 Einwohner. Jetzt teste ich 1000 Menschen. Ich bekomme damit im Mittel 100 Infizierte. Nächste Woche teste ich 10000 Menschen. Siehe da, ein Anstieg auf 1000 Infizierte. Drastisch!  Pustekuchen. Ich teste nur mehr.

Das Beispiel ist viel zu simpel, nimmt es mit 10% eine sehr hohe Rate an Infektionen an - das wären immerhin 8000000 Menschen in D gleichzeitig. So würde bei der Zufallsauswahl von 1000 Menschen auch eher welche drunter sein. Die tatsächliche Infektionsgefahr liegt jedoch viel niedriger, vermutlich/sicher bei einem Wert von unter 1%. Also zurück an den Taschenrechner. Annahme wir haben die Rate von 0,5 Infizierten je 100 Einwohner. Nun sinkt die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich auch einen Infizierten bei 100 zu haben. Eine Erhöhung der Testzahl wird daher auch nicht zwingend entsprechend mehr Infizierte ergeben. Das Ereignis einen Infizierten zu finden ist sehr selten im Vergleich zur Rate von 10%.

Nun ein Abgleich mit der Realität: Urlaubsrückkehrer werden gerade häufig positiv getestet. Da kommt also eine Gruppe von 13 Abiturienten nach Hause, 11 positiv. Eine Familie mit drei aus vier Personen positiv. Es handelt sich also nicht mehr um zufällige, unabhängige Probenentnahmen, sondern um abhängige Tests. Im April hätten wir bei einem Fall in der vierköpfigen Familie die anderen nicht getestet, um Kapazitäten zu schonen. Die drei anderen wären automatisch mit in Quarantäne gekommen. 

Während wir vor 8 Wochen noch ca. 350000 Tests je Woche durchgeführt haben, führen wir aktuelle zwischen 550000 und beinahe 700000 Tests durch (Quelle: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-08-12-de.pdf?__blob=publicationFile ). Also ca. eine Verdoppelung dr Anzahl an Tests. Hätten wir eine gute Stichprobenauswahl und zufällige Verteilungen, dann sollten wir mathematisch gesehen eine Verdoppelung der Neuinfizierten erreichen. Wir liegen in diesem Bereich. Der Anteil positiver Tests ist hierfür der beste Indikator. In den letzten Wochen ging der immer nach oben, wenn es Großereignisse wie bei Tönnies gab. Aber auch jetzt steigt er nicht stark an. Und wir dürfen nicht vergessen, dass wir eben auch jetzt nicht zufällig auswählen, sondern Pseudoreplikation in den Daten vorfinden (siehe Beispiel Abiturienten oder Familien). 

Ist das nun kritisch? Es wird definitiv die Kontaktrückverfolgung erschweren. Wobei die Reiserückkehrer bei Testpflicht und Einhaltung einer Kontaktsperre bis Vorliegen des Testergebnisses nur ein kleines Problem darstellen. Spannend wäre die genaue Rate an positiv getesteten Rückkehrern, die ja bei den Ämtern vorlegen sollte. Ansonsten bildet die erhöhte Testrate vielleicht auch nur die dauerhaft vorhandene Infektionskette ab. Denn wie mittlerweile in vielen Studien gezeigt, liegt die Dunkelziffer - also unerkannt Infizierte - teils bei mehr als 10 je Infiziertem. Diese gab es vermutlich ja auch vor dem Anstieg jetzt auch schon. Diese liefen aber unter dem Radar der Gesundheitsämter.

Wären da noch die jungen Leute, die auf Parties Superspreaden und alle gefährden: Gibt es denn da einen Hinweis für? Natürlich mal vereinzelte Ereignisse, aber was ich so sehe, sind die Jungen doch zu meist diszipliniert. Wenigstens so diszipliniert wie die Älteren. Im Bus haben sie allesamt die Maske nicht auf. In der Bahn auch nicht. Und beim Einkaufen stehen die Renter schon seit Wochen dicht beisammen, auch ohne Maske. Und ja, das ist nur mein Momentaneindruck mit sehr begrenzter Datenbasis. Aber die Datenlage zeigt doch, dass die jungen Menschen bisher recht diszipliniert waren, und jetzt mit dem Sommer, Schulende etc. sich einfach auch mal belohnen wollen oder müssen. Solange kein Ende der Pandemie absehbar ist - und bei aller Hoffnung, das wird auch mit Impfung nicht passieren - kann man das irgendwie verstehen. Schön wäre es, würde man die jungen Leute ernst nehmen, ihnen zu hören und vielleicht auch einmal gezielt untersuchen, wie stark sie zu den Infektionsereignissen beitragen. Und wie man ihre Bedürfnisse berücksichtigen kann. Immerhin gibt es bei den unter 30 Jährigen bisher nur gesamt 13 verstorbene und auch die Hospitalsierungsrate liegt bei maximal 1% (hier ist es schwierig verlässliche Zahlen zu bekommen).

Auch insgesamt ist trotz steigender Fallzahlen die Hospitalisierungsrate seit KW24 auf gleichbleibend niedrigem Niveau. So machen die COVID-19 Patienten ca. 3% aller Patienten mit respiratorischen Infektionen aus (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-08-13-de.pdf?__blob=publicationFile).

Ja, man muss SARS2 nach wie vor absolut ernst nehmen und ja, die AHA-Massnahmen sind absolut gerechtfertigt. Aber der Umgang mit den Zahlen könnte endlich besser werden. Den leidigen R-Wert knöpfe ich mir auch nochmals vor, das habe ich schon seit 3 Monaten in Peto. Und vor allem muss endlich emphatischer von Seiten der Politik agiert werden und nicht immer mit dem Finger auf einzelne Gruppen gezeigt werden, wenn es wieder Infektionsereignisse gibt. Man sollte die Menschen mitnehmen, sonst werden sie ungeduldig und unzufrieden. Auch sollte man keine Angst verbreiten. Leider passiert genau das immer wieder. 

Wir werden alle noch für mindestens ein Jahr Einschränkungen hinnehmen müssen, dafür wird es Anstrengungen geben müssen, um die nötige Akzeptanz herzustellen. Strafen sollten ultima ratio sein. Wir sollten aufhören, den Impfstoff als Ende der Pandemie zu sehen. Wenn sich das nicht erfüllt, wird es um so schwieriger werden, die Menschen mitzunehmen. 


Und noch ein Nachtrag Noch gar nicht im Gespräch ist, ob es sich vielleicht auch um eine Mutation es SARS2 handelt, die sich vielleicht leichter verbreitet und dafür geringere Symptome aufweist. Das haben diverse Virologen schon unabhängig von einander früher prognostiziert uns aus evolutiver Sicht ja die einzige Lösung für den Virus weit verbreitet zu überleben. 

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